Das Klopfen des Spechts ist Nahrungsbeschaffung und Kommunikation zugleich

Zeichnen und Handeln in den Arbeiten von Thorsten Streichardt



Es gibt wenige Begriffe, die sich heute mit ähnlicher Hartnäckigkeit in den Diskussionen über Kunst halten wie derjenige der „Arbeit“. Die Konjunktur ist im Bereich gesellschaftlicher Debatten keine neue Sache; im deutschen, auf Kunst bezogenen Sprachgebrauch lässt sie sich schon seit Jahrzehnten daran ablesen, dass bei zeitgenössischen künstlerischen Hervorbringungen nur noch in Ausnahmefällen von einem „Werk“ die Rede ist, meistens dagegen von einer „Arbeit“, im Englischen etwa hat sich mit fast ebensolcher Breitenwirkung neben „work“ das „piece“ geschoben, das ebenfalls auf eine historisch dominante Verschiebung des 19. Jahrhunderts, vom handwerklich gefertigten Einzelstück hin zum Massen-Ding aus industrieller Fertigung, reagiert. Die Differenz, die sich jeweils zwischen den beiden Begriffen auftut, wird inzwischen verstärkt durch ein vor allem im Bereich der „Kreativindustrien“ kursierendes Gerücht – dass künstlerisches Arbeiten anderen Formen der sich ausdifferenzierenden Produktivität insofern ähnlich sei, als es sich seit den späten 1950er Jahren zusehends „immaterialisiert“ habe – mit Gewährsleuten von Lucy R. Lippard („Six Years: The Dematerialization of the Art Object“, 1973) bis Paolo Virno („Grammatik der Multitude. Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen, 2005“). Die Frage, wie sich „gewöhnliche“ denn von „künstlerischen“ Arbeiten unterscheiden lassen, rückt erneut ins Blickfeld – zunächst leicht zu beantworten, jedenfalls im Sinne von Kunstbegriffen, bei denen sich „Autonomie“ als Freiheit von unmittelbaren Verwertungszwängen und simplen
Zweckbestimmungen versteht. Das längst nicht mehr nur in Kunstzeitschriften oder geisteswissenschaftlichen Seminaren begierig aufgegriffene Schlagwort „Immaterialität“ ist so verbreitet, dass in Diskussionen darin erinnert werden muss, dass es ja durchaus und in drastischer Weise heute „materielle“ Arbeit gibt – und dass man sich schon wundert, wenn jemand, ein/e Künstler/in zumal, sich der materiellen Seite künstlerischen Handelns und Produzierens widmet. Dies getan zu haben, kann Thorsten Streichardt unbedingt für sich in Anspruch nehmen – doch dies nicht durch eine betonte Materialität in seiner Produktion, etwa durch wertvolle oder schwer zu handhabende Werkstoffe, eine besonders ausgestellte handwerkliche Geschicklichkeit oder gar Meisterschaft. Streichardt verschränkt vielmehr die verschiedenen koexistierenden Arbeitsbegriffe, lässt sie sich wechselseitig aufladen und in Frage stellen, dreht an den Stellschrauben der Dimensionen (Miniatur / Monument; Einzelarbeit / Gruppenarbeit/gesellschaftliche Arbeit; Augenblick/longe durée) und der Bedeutungen (vor allem an der um 360 Grad drehbaren Schraube mit den beiden oberen und unteren Extremen: Erhabenheit und Lächerlichkeit) und macht die Ergebnisse in oft an nervöser Produktivitätsenergie reichen Experimentalanordnungen nachvollziehbar. So lesen sich seine Selbstaussagen auch fast folgerichtig wie eine Verortung zwischen dimensionalen Extremen, die der Arbeitsbegriff bereithält, aber auch wie der Teil einer Theorie des künstlerisch-soziologischen Experiments: „Das sprichwörtliche 'unbeschriebene Blatt' gibt es nicht, hat es nie gegeben. Alles ist schon geprägt, Eigentum eines Zusammenhangs, der Funktionen nicht nur bereitstellt, Nutzen nicht nur verspricht, sondern einfordert. Es unterwirft mich seiner Logik, nach der ich mich zu richten habe. Jeder kennt diese Form der stillen Zurichtung z.B. durch die Entwicklung neuer Standards in der Computertechnik. Als User bediene ich sie. Vorrangig befinde ich mich also in einem Abhängigkeitsverhältnis unter einem normativen Druck, den ich gelernt habe, hinter dem

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Versprechen auf Zugewinn unverzichtbarer Möglichkeiten verschwinden zu lassen. Als teilnehmender Beobachter arbeite ich gleichzeitig mit und gegen diese Abhängigkeit von Bedingungen, die, als selbstverständlich hingenommen, sofort unsichtbar werden.“

„Stille Zurichtung“ und „normativer Druck“ als Kennzeichen zeitgenössischer (künstlerischer und anderer) Produktionsprozesse – eine Diagnose, die auf ein kulturkritisches und der Tendenz nach aufklärerisches Interesse schließen lässt. Thorsten Streichardt setzt sich aber vor allem über die Logik in den Aufbauten seiner Installationen, Interventionen und Performances, seiner Bilder und Maschinen mit den Mechanismen der kulturtechnologischen Unterwerfung des Einzelnen auseinander. Sie enthalten signifikante Einsätze des Materiellen, die auf meist bestrickend einfache Weise die beschriebenen Verbrauchssysteme auf einen nicht nur spaßhaften oder ironischen Nenner bringen und geradezu unwillkürlich an den Begriff der „Widerständigkeit“ des Materials denken lassen. Am sinnfälligsten geschieht das vielleicht in installativ-performativen, tja, Arbeiten wie „Wald in Progress“, die im Titel mit der Rückersetzung von Kultur durch Natur kokettiert und dies für die so polemische wie aufklärerische Demonstration des entropischen Charakters entfremdeter Arbeit nutzt. In einem Leerstand in Berlin-Mitte hatte Streichardt über längere Zeit mit täglichen, strikt eingehaltenen Arbeitsschichten eine wachsende Konstruktion aus auseinander genommenen Büromöbeln erstellt. Mit traditionellem Schnitzwerkzeug hieb er auf die furnierten Spanplatten ein, was in seiner repetitiven Geste die Gehirn erschütternde Arbeit des Spechts ins Bewusstsein rief, oder die Negativitätsmuster der auf Angriff gegen „den Menschen“ umgeschalteten Vogelschwärme bei Hitchcock. Das „Künstlerische“ bestand nicht nur in der potentiellen Romantik der Naturassoziationen, die der Titel begünstigen mochte, es ergab sich bereits aus dem Kontext der in

unmittelbarer Nachbarschaft langsam zum Formationsflug aufbrechenden Berliner Galerienszene, die permanent irgendwelche neuen Locations checkt, auskernt und zu White Cubes umbaut. Das Bild des mit grauem Anzug und Krawatte vor sich hin schuftenden und konzentrische Hack-und Kratzmuster erzeugenden Künstlers war etwas Neues, eine boshafte morphische Resonanz der umliegenden Investitionsbrachen um den Checkpoint Charlie. Dass dort zugleich eine das Verschwendungsprinzip versinnbildlichende Kettenschaltung röchelnder Kaffeemaschinen, mit Textmarker bemalte Krawatten und schludrige Origamivögel zu sehen waren, machte klar: Hier sah man nicht Michel Piccoli als den zum grunzenden, die Außenwand seiner Wohnung heraus brechenden Barbaren regredierten „Themroc“, wie die 1970 er Jahre es im besten Fall geschildert hätten – auch keinen Joseph Beuys oder Anatol Herzfeld, die zur gleichen Zeit universalistische Arbeitsund Produktionsbegriffe zu lancieren suchten – und auch keine Betrachterreaktionsprofiteure wie Tino Sehgal oder John Bock, für die das Performative vor allem die magische Arbeit der nur äußerst notgedrungen materiellen Referenz bedeutet. Stattdessen eine Mischung unterschiedlicher, in ihrem jeweiligen Kontext verlustfrei zu lesender Zeichen aus bekannten Bereichen: Büro / Kunstaktion / handwerkliche Arbeit, – die sich jedoch in ihrer Zusammenstellung gegenseitig Beine stellten, wenn sie sich unerwartet und explizit nahe kamen. Arbeit wurde künstlich auf eine aporetische Sturheit verkürzt vorgeführt, als etwas, das sich wie automatisch, sehr unvirtuos und reich an Energieverlusten vollzieht, ohne einen landläufigen Sinn zu ergeben – „Ganz wie im Kunstbetrieb!“ ist man versucht auszurufen.

Natürlich verwendete Streichardt hier das nicht unvertraute Register der Intervention – jener Art des künstlerischen Eingriffs, die idealer Weise mit einem Schlag alle Ordnungen in seinem Wirkungsbereich adressiert und durchsichtig

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macht – und dann die Frage des „Was dann?“ schmerzlich offen lässt. Ein solches interventives Moment immer im Auge zu behalten und ohne plakative Didaktik auch zu vermitteln, zählt zu den vielen Vorzügen seines Arbeitens. Doch wenn von Interventionen die Rede ist: Wo ist eigentlich Thorsten Streichardt? Denn zweifellos bleibt er in all dem auf das Kunstsystem ausgerichtet. Aus dieser systemischen Beobachterperspektive gelingt es ihm auch, die Fenster zu anderen Dimensionen des Arbeitens, Produzierens, Handelns, Machens, Schaltens und Waltens aufzustoßen. Jedenfalls konstruiert er sich und uns kein illusorisches Außen. Er bleibt auf die Differenz künstlerischen Produzierens und Handelns bezogen und geht dies mal von der medialen, mal von der genremäßigen Seite an. Seit einigen Jahren hat er nun schon eine besondere künstlerische Technik und die mit ihr traditionell und auch aktuell verbundenen Werkkategorien von immer neuen Seiten beleuchtet: die Zeichnung, das Zeichnen. Die Analyse des mit der Zeichnung assoziierten doppelten Machtanspruchs – inmitten der Modernen ursprünglich zu sein und zugleich Historizität und aktualisierende Präzision des genialischen Strichs zu verkörpern – taucht an einer bekannten Stelle im Werk von Robert Rauschenberg auf. Die findet sich als Widerklang in Streichardts neueren, auf Zeichnung bezogenen Arbeiten, vor allem in „Eraserface“ (2006), jener Radiergummi-Wandzeichnung, die zu Teilen schon auf das darunter hängende Bücherbord der Galerie heruntergeregnet ist; ansonsten aber als Selbstportrait mit dem breiten Grinsen der famosen Cheshire Cat, der Katze aus „Alice in Wonderland“, im Raum steht, ein Bild, dessen konstituierende Gummiabriebpartikel sich an die weiße Wandfläche zu krallen scheinen. Wenn hier eine Rauschenberg-Anspielung in der Luft liegt – Streichardt verneint das, aber man kann ja nie wissen – dann gälte sie sicher Rauschenbergs „zeichnungskritischem“ Dauerbrenner – dem „Erased De Kooning“ aus dem Jahr 1953, bei der sich, damals zu Entrüstungsund Begeisterungsstürmen

führend – der Künstler eine Zeichnung seines Kollegen geschnappt, diese ausradiert und im weißen KabinettPassepartout in einen goldenen, verglasten Rahmen steckte. Von der DeKooningZeichnung, deren Trägerpapier heute schön vergilbt ist, sieht man erwartungsgemäß noch Eindruckspuren und – Radiergummifussel. Bei Thorsten Streichardt nun gilt die (auch sprachlich) brutale Geste des Ausradierens nicht in ödipaler Verspannung einer höher gewähnten Künstlerautorität wie bei Rauschenberg – hier ist die Ursprungszeichnung ein abstraktes Konzept, das zugleich anwesend ist, weil sie in den Radierspuren zu sehen ist (soll mir niemand erzählen, da sei vorher eine grinsende Katze auf der Wand gewesen!), aber auch abwesend, weil hier die Kategorien „Medium“ und „Inhalt“ irritierend falsch ausgefüllt werden. Darin liegt ein unübersehbarer Gestus der Selbstreflexivität – des Künstlersubjekts wie auch seines technischen Verfahrens. Dieser Gestus findet sich in vielfältig abgewandelter Form auch in anderen auf Zeichnung bezogenen Ideen Streichardts, in denen er immer wieder neu die Restbestände der kulturkritischen Optionen „Natur“ und „Technik“ aufeinander stoßen lässt. Ein wesentlicher Ansatzpunkt scheint dabei tatsächlich im „Ausradieren“ zu liegen – nicht immer so buchstäblich wie bei dem gerade erwähnten „Eraserface“, sondern oft im Zeichen des Ausradierens seiner persönlichen Spur, seiner Handschrift, seines Charakters – eine künstlerische „Selbstauflösung“, die an gleich gelagerte Traditionen weniger des Konzeptualismus, vielmehr des dandyistischen Surrealismus im Umkreis von Duchamp, Picabia und Vila-Matas erinnert.

Thorsten Streichardt untersucht schon seit einiger Zeit die physischen Rahmenbedingungen einer abstrakteren Form des Zeichnens: Was in manchen Fällen zunächst wie die konventionelle Arbeitsweise einer gestischen Abstraktion und eine „Aufzeichnung“ nervöser Energien erscheint, wird immer in einem medial distanzierenden Schritt zurück aus

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der Authentizität der Bildform relativiert. Dabei kann es sich um eine mit dem Zeichenstift verbundene MiniVideokamera handeln, die einen förmlich in den zeichnenden Stift hineinversetzt, oder aber die sture Wiederholungsdisziplin bestimmter abstrakter Traditionen wird durch Übererfüllung des Schematischen oder die bewusst unangebrachte Übertragung auf die Ästhetik digitaler Medien zu etwas „Uneigentlichem“ gemacht. In den neuen Arbeiten registriert beim Zeichnen jeweils ein Mikrofon das Geräusch des Zeichenakts. Was an den kleinen, buchstäblich auf Fotopapier gehämmerten Zeichnungen – Straßenszenen, Häusern, einem Innenraum – auf den ersten Blick an Bildtechniken wie den Druck mit Rastern oder Pixeln erinnert, betont durch die Klangkomponente ganz klar eine physische Grundstruktur der Weltwahrnehmung. Sie lässt aber das Psychische der Wahrnehmungssituation gerade durch dessen „maschinell“ zeichnerische Aussetzung wieder erstarken. Alles im künstlerischen Handeln ins Bewusstsein Gerufene weckt auch das Denken an sein Gegenteil. Bei den ans Maschinenhafte angeglichenen und mit Verve stumpf gehämmerten „300 dpm“Zeichnungen aus dem Jahr 2007 erscheint so aus dem Meer der gleichförmigen Pointillismen das am ehesten „zeichnerisch“ zu nennende mimetische Bild. Es sind „Ansichten“ (deren thematische Auswahl man sich nicht zu leicht vorstellen sollte), doch werden sie spätestens über die „dpm“, die „dots per minute“ aus dem Titel an die mediale Gegenwart weitervermittelt.

Entscheidend wird in letzter Zeit der Verweis auf die für gewöhnlich nicht für grundlegend gehaltenen sinnlichen Parameter des Zeichnens, vor allem die akustische Dimension, die mit einer klassischen Subversionstechnik die Aufmerksamkeit vom RetinalRationalen des „modernen“ Zeichnens auf das Unheimliche im Kratzen, Klackern, Schaben und Schleifen des Zeichenvorgangs lenken. Zwar könnte man bei „300 dpm“ auch wieder an die Altvorderen denken – Morris’„Box with the Sound of Its Own Making“

(1961) mag einem durch den Kopf schießen – doch wird hier der subjektivistische Willensakt des AvantgardeKünstlers deutlich unterboten, wenn Streichardts Installation mit relativ einfachen Mitteln eine weitaus komplexere Disparatheit erzeugt. Bei den Willingshausener „Freilautzeichnungen“, bei denen er zu seinen Aufnahmen von Umgebungsgeräuschen Andere zeichnen ließ, tritt der Zug der Selbstausradierung noch weiter in den Vordergrund, zumindest dann, wenn man sich auf die Künstlergeste des „Abgebens“ an „Nicht-Künstler/innen“ konzentriert, die innerhalb des Ausstellungskonzepts eine wichtige Öffnung ausmachte. Es ließe sich also auch hier eine in unterschiedlichem Maße ausgeprägte „Immaterialisierung“ künstlerischen Arbeitens finden, doch durch das hartnäckige Spiel an den Bezugsgrößen eines „zeichnerischen Dispositivs“, der gesammelten Möglichkeiten „künstlerischen“ und „nicht künstlerischen“ Zeichnens in ihren je eigenen Signifikationskontexten, geht es gerade um die Moderation unterschiedlicher Handlungsansätze, die mit der Analyse der Beeinflussung durch die Materialität der Technologie nur anfangen, aber keineswegs enden. Thorsten Streichardt zeigt, dass in einer kritischen, die eigenen Mittel nicht nur analysierenden, sondern auch aktiv differenzierenden Übersetzung der modernen Grenzüberschreitungen hin zu einem künstlerischen Handlungsbegriff eine wichtige gegenwärtige Aufgabe besteht. Dazu gehört auch ein Beharren auf den Möglichkeiten der Einflussnahme auf Prozesse, die gerade in der Grauzone zwischen „künstlerischem“ und „nicht künstlerischem“ Arbeiten ein erhebliches Maß an Vermittlung und Verhandlung erfordern.

Clemens Krümmel

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